Numero dieci

14.03.2023

Beitrag aus dem Zwölf-Magazin: Heft 95

 

 

Die Nummer 10 ist die beliebteste und bedeutendste im Weltfussball. Doch in der Schweiz hat sie an Stellenwert verloren. Beim designierten Meister YB verzichten die Spieler gar freiwillig darauf. Was ist passiert?

 

Prägte die Nummer 10 in der Schweiz wie kein zweiter: Hakan Yakin.

 

Messi. Mbappé. Neymar. Modrić. Hazard. Eriksen. Pulisic. Xhaka. Als der internationale Fussballzirkus im Dezember Station in Katar machte, trugen die grössten Stars jeder Nation in der Manege fast ausnahmslos die Nummer 10. Jeder will diese Rückennummer, von der eine Magie ausgeht wie von keiner anderen, doch nur die talentiertesten, strahlkräftigsten und besten Spieler dürfen sie tragen. Aber hat die Zehn wirklich noch diese Anziehungskraft, die ihr einst von Granden wie Pelé oder Maradona eingehaucht wurde?

 

Schaut man sich auf den Schweizer Plätzen um, kommen durchaus Zweifel.
Natürlich gibt es sie noch, die genialen Mattia Bottanis (Lugano) und Antonio Marchesanos (FCZ), welche die 10 im höheren Alter noch so gerne spazieren führen. Aber die 10 darf heute eben auch ein Servette-Eigengewächs wie Alexis Antunes tragen, das häufig nicht von Anfang an spielt. Bei St. Gallen gehört die Nummer Aussenstürmer Chadrac Akolo, bei Sion wurde sie Leihspieler Wylan Cyprien überlassen, bei Thun ziert sie den Rücken von Dimitri Oberlin. In Bern, wo einst Hakan Yakin, Gilles Yapi oder Miralem Sulejmani den Zehner mimten und sich heute mit Kastriot Imeri, Filip Ugrinic oder Fabian Rieder die besten zentralen Mittelfeldspieler des Landes versammeln, ist das Trikot sogar ohne Besitzer. Der Grund überrascht. YB schreibt auf Anfrage: «Nach dem Abschied von Moumi Ngamaleu äusserte bisher kein Spieler den Wunsch, künftig die Nummer 10 tragen zu wollen.»

 

Dass die ikonische Zahl in der Fussballwelt ihren Nimbus zu verlieren droht und dereinst nicht besonderer als eine 4, eine 21 oder eine 35 sein soll, scheint dem geneigten Fan unbegreiflich. Dabei erreichte sie ihre Sonderstellung erst relativ spät. Als an der WM 1954 erstmals den Spielern fixe Rückennummern zugeteilt wurden, erhielt die 10 zumeist ein Stürmer – aber kaum je der grösste Star im Team. Im Final im Wankdorf trug sie zwar der ungarische Ausnahmekönner Ferenc Puskás, aufseiten der Deutschen war es aber Werner Liebrich, der am Turnier vor allem dadurch aufgefallen war, dass er Puskás in den Gruppenspielen kaputtgetreten hatte.

 

Erst durch Pelé hob sich die 10 von den übrigen Nummern ab. Ihm folgten Grössen wie Günter Netzer, Michel Platini oder Zico. Aber noch in den 80ern sah man diese Nummer auch an weniger auffälligen Spielern wie dem Deutschen Hansi Müller, Italiens Salvatore Bagni oder Englands Terry McDermott. Erst an der WM 1998 in Frankreich las sich die Auflistung der Zehner endgültig wie ein Who is who des Weltfussballs: Zidane, Okocha, Rivaldo, Del Piero, Valderrama, Michael Laudrup. Die 10 kennzeichnete jene Genies, die mit magistralen Zuspielen, stupender Ballbehandlung und purer Eleganz die Zuschauer zu Begeisterungsstürmen hinzureissen vermochten. Raubeinigen Abräumern stand sie ebenso wenig zu wie wuchtigen Strafraumknipsern. Sie gehörte ins Zentrum des Geschehens, am liebsten hinter die Spitzen, und war weitgehend von handwerklichen Arbeiten wie Laufduellen, Grätschen und Manndeckung entbunden. Die Mitspieler mögen Athleten sein, die Zehn hingegen sollte Künstler sein.

Campo will dem Fan Freude bereiten

 

«Die klassische 10 gibts nur noch selten», sagt Samuele Campo. Der gebürtige Basler trägt beim FC Luzern diese Nummer und gilt nach Ansicht vieler als der letzte echte Zehner der Liga. Die Position habe sich in den letzten Jahren verändert, der Spielertyp aber im modernen Fussball weiterhin Platz, findet Campo. «Ein Zehner versucht auch mal aussergewöhnliche Dinge, die anderen nicht in den Sinn kommen. Er nimmt öfters etwas mehr Risiko. Wenn es funktioniert, bringt das dem Team etwas, und die Zuschauer haben auch Freude.» Natürlich gehöre mittlerweile deutlich mehr dazu, als nur feine Pässe zu spielen, wer das erfülle, werde aber von allen Mitspielern akzeptiert, die dann vielleicht etwas mehr Laufarbeit zu verrichten haben.

 

Obwohl es für die 10 schwieriger geworden ist, ihren Platz zu behaupten, ist Samuele Campo überzeugt, dass diese Rückennummer nach wie vor die beliebteste sei. Doch es ist nachweislich einfacher geworden, sie zu bekommen. In der Super League absolvierten die Nummern 10 der Klubs diese Saison im Schnitt gerade mal 40 Prozent aller Einsatzminuten, in der dieci Challenge League sind es immerhin 58 Prozent. Und längst nicht alle, die diese Nummer tragen, haben ihre grössten Stärken bei der feinen Technik und dem herausragenden Spielwitz.

 

Schon länger müssen bei Anpfiff nicht mehr die Nummern 1 bis 11 auf dem Platz vertreten sein. Doch erst seit einigen Jahren ist es gang und gäbe geworden, dass selbst Teamstützen freiwillig höhere Nummern wählen. Mario Götze trägt bei Frankfurt mittlerweile die 27, Granit Xhaka legte sich bei Arsenal die 34 zu, Phil Foden spielt bei Manchester City mit der 47. Die Absicht ist klar: Teilt man sich mit der 10 die Rückennummer mit unzähligen Ikonen, sticht man mit einer exotischeren Nummer mehr hervor. Auch diese Tendenz hat dazu geführt, dass die 10 nicht mehr zwingend bei Akteuren landet, die man mit einem bestimmten Spielstil verbindet.

 

«Das finde ich nicht ganz korrekt», sagt Tunahan Çiçek, aktuelle 10 beim FC Vaduz. «Die 10 sollte reserviert sein für Spieler, die auch jene Qualitäten mitbringen, die ein Zehner haben sollte.» Als Çiçek Junior beim FC Arbon war, hiess sein grosses Vorbild Hakan Yakin. Niemand in der Schweiz füllte die Spielmacherrolle so perfekt aus wie der Basler. Aus dem Nichts kreierte er mit Geistesblitzen Torchancen für die Stürmer vor ihm, sei es Christian Giménez beim FCB oder Alex Frei in der Nati. «Natürlich wollte auch ich die 10 haben», so Çiçek, «aber ich hatte gar keine Wahl. Damals lief es noch so, dass der Trainer die 10 einfach dem besten Spieler gab, und das war offenbar ich», lacht der 30-Jährige. Auch nach seinem Wechsel in den FCSG-Nachwuchs durfte er die Nummer behalten.

Sag mir wo die Nummer 10 ist: Tunahan Çiçek vom FC Vaduz sieht immer weniger klassische Zehner

 

Als Çiçek bei Winterthur zum Challenge-League-Stammspieler reift, trägt er die 11 – die 10 ist schon besetzt. Gleichzeitig war die kurze Blütezeit des mit allen Freiheiten ausgestatteten offensiven Mittelfeldspielers zum Leidwesen vieler Anhänger des leichtfüssigen Fussballs bereits wieder vorbei. Gegner fuhren die Doppelsechs auf, um seine Kreise zu stören. Trainer opferten reihenweise des Zehners bevorzugte Position, um die gefährliche Zone in der eigenen Hälfte personell zu verstärken. Zudem wurde das Spiel rasant athletischer, alle mussten beim Pressing und der Defensivarbeit mithelfen. Einen tänzelnden Ballartisten mit bescheidenem Aktionsradius wollte sich kaum mehr ein Coach leisten. Sie wurden entweder umfunktioniert wie David Silva bei Manchester City – oder fanden nicht so richtig ihre Rolle, wie der hochtalentierte Isco, der nun mit 30 Jahren vereinslos ist. Beide trugen auf Klubebene in ihrer Karriere bezeichnenderweise nie die 10.

 

Wenn heute ein kampfstarker defensiver Mittelfeldmann als Ergänzungsspieler diese Nummer trägt, hat Çiçek wenig Verständnis: «Das passt doch einfach nicht!» Er räumt ein, dass mittlerweile kein Kampf mehr darum herrsche, wer die 10 tragen dürfe. Er hat dafür eine Erklärung: «Wer die 10 aussucht, gibt durchaus ein Signal, was für ein Spielertyp er sein will. Mittlerweile setzen aber viele Trainer mehr auf Powerfussball und weniger auf Spielwitz.» Wer dennoch die 10 wähle, schüre damit Erwartungen. «Für einige Spieler bedeutet das sicher einen gewissen Druck. Mir gab es eher Selbstvertrauen. Die Nummer kriegt ja nicht jeder.»

 

 

Grenzen bei der Klubwahl

Für laufstarke Flügel, zuverlässige Verteidiger oder starke Balleroberer im defensiven Mittelfeld ist in jedem Team Platz. Für Spieler mit den traditionellen Qualitäten eines Zehners immer weniger. Çiçek: «Wir brauchen einen Coach, der uns gewisse Freiheiten lässt. Sollte ich also mal ein Angebot von einem anderen Klub bekommen, würde ich erst sehr genau wissen wollen, was der Trainer für einen Plan mit mir hat.» Ansonsten droht ein Dasein als Reservist.

 

Das bekommt derzeit auch Samuele Campo zu spüren. Als er nach Luzern wechselte, hiess der Trainer noch Fabio Celestini, Verfechter des technisch gepflegten Fussballs. Unter Nachfolger Mario Frick spielt Campo derzeit nur eine Nebenrolle und wird dafür auch kritisiert. «Es ist wohl schon so, dass die Leute meinen, eine Nummer 10 müsse besonders auffallen», sagt er. Fussballtaktisch habe sich aber viel getan, heute könne man als Zehner nicht mehr wie einst Maradona ohne defensive Verpflichtungen brillieren. Nützlich seinen solche Spieler aber nach wie vor: «Ein Zehner bringt ein kreatives Element rein, das auch neben all dem Pressing ein Gewinn sein kann.»

 

Als Junge schwärmte Samuele Campo für Alessandro Del Piero, Francesco Totti, Roberto Baggio, Hakan Yakin und Matías Delgado. Er imitierte ihren Spielstil, nur um später festzustellen, dass dieser mittlerweile aus der Mode gekommen war. «Ich höre immer wieder, dass ich einfach zu spät geboren sei», sagt der 27-Jährige schmunzelnd. «Ich hoffe sehr, dass diese Art von Fussball nicht ausstirbt und es weiterhin Trainer gibt, die ihn auch zulassen.» Ändern will er sich jedenfalls nicht: «Wenn nicht einmal mehr ich so spiele, wie ein Zehner spielen sollte, wer macht es dann noch?»

 

Was die Nummer an sich anbelangt, bleiben den Nostalgikern immerhin die Nationalmannschaften und Endrunden als Trost. Dort müssen die Trikots weiterhin strikt von 1 bis 23 vergeben werden. Zu grossen Mutationen in den Kadern kommt es wesentlich seltener als im austauschbaren Umfeld des Klubfussballs. Nirgends bedeutet eine 10 mehr Prestige, nirgends strahlt ein mit diesem Trikot verbundenes technisches Kunststück, ein Solo von Messi oder ein Steilpass von Xhaka, mehr Glanz aus als auf der grossen WM- und EM-Bühne. Eine Prise 10 wird dem Fussball also noch eine Weile erhalten bleiben. Das glaubt und hofft nicht nur Samuele Campo.