Italianità für alle
Beitrag aus dem Zwölf-Magazin: Heft 97
Spätestens mit der dritten Generation kämpfen die Dutzenden italienisch geprägten Fussballvereine in der Schweiz mit Mitgliederschwund. Nun haben sie sich stark geöffnet – und ringen gleichzeitig um ihre Identität.
«Chiudi, damminomol!» Die Anspannung auf dem Fussballplatz in Lausen ist hoch, es steht viel auf dem Spiel. Die AC Rossoneri kann mit einem Sieg heute den Aufstieg in die 2. Liga klarmachen. Italienische Wortfetzen fliegen auch aus den Reihen der rund 200 Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Platz, Deutsch, Polnisch und Spanisch sind ebenfalls zu hören, ab und zu begleitet von Paukenklängen. Kurz vor Schluss erhöht das Heimteam auf 4:1, bald darauf knallen die Korken. Die Spieler liegen sich in den Armen, junge Fans zünden ein paar Pyros. Es steht eine lange Nacht bevor, die mit viel Bier begossen werden wird. Italienischem natürlich.
Die AC Rossoneri ist einer von vielen «Italo-Vereinen», die im Zuge der zunehmenden Migration aus dem Süden entstanden sind. Die wachsende Schweizer Wirtschaft war in den 50er- und 60er-Jahren dringend auf zusätzliche Arbeitskräfte angewiesen. Am Bahnhof Liestal versammelten sich jeweils italienische Einwanderer, um Neuankömmlinge zu begrüssen und sich auszutauschen. Man traf sich zum Fussball- und zum Kartenspiel, zwei grossen Leidenschaften der Italiener. Eines Abends gewann einer von ihnen beim Kartenspiel und schickte seinen Bruder nach Basel, um mit dem Gewinn einen Lederfussball zu kaufen. 1961 stellten die Herren den Antrag beim Schweizerischen Fussballverband um Aufnahme in den Ligabetrieb. Weil sich nicht alle Mitglieder in allen Punkten einig waren, entstanden gleich zwei Vereine: die AC Virtus in Liestal und die AC Rossoneri im benachbarten Lausen. Damit war auch gleich die erste Rivalität geboren.
Die Italiener kommen!
Zwischen 1950 und 1970 vervierfachte sich der Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz, den Hauptteil machten italienische Migranten aus, die sich hierzulande ein besseres Leben erhofften, auf das viele von ihnen allerdings lange warten mussten. Die Schweiz begegnete den Südländern mit Skepsis oder gar offener Ablehnung. Die Angst vor «Überfremdung» grassierte. In Zürich formierte sich die «Schweizerische überparteiliche Bewegung zur Verstärkung der Volksrechte und der direkten Demokratie», im Volksmund «Anti-Italiener-Partei» genannt. Die Schwarzenbach-Initiative kam vors Volk, die Hunderttausende Ausländer ausschaffen wollte und die knapp abgelehnt wurde. Max Frisch umschrieb die Gemütslage seiner Landsleute treffend: «Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr. Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.» Menschen, die auf der Suche nach Halt und Orientierung waren – und diese nicht zuletzt in den italienischen Vereinen fanden, die schweizweit in grosser Zahl entstanden.
Auch im Fussball bekamen die Italiener die Ablehnung deutlich zu spüren. Provokationen und Beleidigungen mussten sie erdulden. Dass es hie und da zu Raufereien kam, festigte das Klischee der gewalttätigen Ausländer. Der FC Black Stars Basel beantragte 1965 an der Delegiertenversammlung des nordwestschweizerischen Fussballverbandes, sämtliche «Ausländermannschaften» in eine eigene Gruppe einzuteilen. Um das zu verhindern, betrieb der Abgesandte der US Bottecchia Selbstgeisselung und bat um Verständnis dafür, dass es schwierig sei, «das Temperament der vielfach primitiven italienischen Spieler und Zuschauer im Zügel zu halten».
Die AC Rossoneri war der erste Fussballverein in Lausen. Italienische Migranten, viele von ihnen Milan-Fans, hoben den Fussballplatz eigenhändig mit Schaufeln und Pickeln aus und nannten ihn liebevoll und wenig überraschend «San Siro». Die Gastarbeiter tauschten sich aus, schwelgten in Erinnerungen an ihre Heimat und liessen eine Community entstehen, die als Nährboden für ihren Integrationsprozess in diesem noch fremden Land diente. Viele ähnliche Vereine überdauerten die Zeit nicht, auch die Rossoneri hätte dieses Schicksal fast ereilt. Als Präsident Dario Mulas vor 13 Jahren in den Vorstand gewählt wurde, stand der Klub vor dem Ende. Noch «eineinhalb Mannschaften» stellten die Rossoneri, mittlerweile sind es deren 16. Es entstand ein grosses, modernes Clubhaus, an Matchtagen wie heute schenkt ein älterer Herr an der Bar Getränke aus, in der geräumigen Küche bereiten zwei ebenfalls ältere Damen kleine Köstlichkeiten zu. Dass es eher langsam zu- und hergeht, daran stört sich hier niemand. Man kennt sich. Im kulinarischen Angebot spiegelt sich der Wandel wider, den die Rossoneri durchgemacht haben. Crostini und Pasta zeigen die italienischen Wurzeln, es gibt aber auch Wurstsalat, Schnipo und Burger. «Wir haben für alle etwas, und alles ist gut», sagt Mulas.
In den 80er-Jahren lief Mulas selbst für die Rossoneri auf, die damals fast ausschliesslich auf Italienischstämmige setzten. Heute habe noch rund die Hälfte der Spieler italienische Wurzeln. Diese Durchmischung schürt nun wiederum bei den Älteren gewisse Ängste. Vor sechs Jahren wurde die Generalversammlung zum ersten Mal auf Deutsch abgehalten. «Einige Vereinsmitglieder der ersten Generation haben sich danach beschwert, weil sie nichts verstanden und zudem die DNA des Vereins verwässert werde», erzählt Mulas.
Eine italienische Identität wird hier in Lausen niemandem aufgezwungen, der Verein steht allen offen – sogar Juve-Fans, wie der Vereinspräsident persönlich beweist. Die Italianità soll aber gepflegt werden, auch aus Respekt gegenüber den Gründervätern und deren Arbeit. Die zweite Generation, die Secondos, versucht heute, die Grundwerte ihres Vereins zu erhalten, ohne ausgrenzend zu sein. Vorurteile kämen mittlerweile eher von Italienern selbst. «Der Italiener ist eine sehr neidische Person, man gönnt sich wenig», so Mulas. Schweizer Junioren landen manchmal bei italienischstämmigen Vereinen, weil die Eltern überzeugt sind, dass etwas Italianità nicht schaden kann. Italienische Eltern wiederum schicken ihre Kinder eher zu traditionell schweizerischen Vereinen, weil sie die klischierten Schweizer Werte nicht missen wollen.
Öffnung oder Untergang
Viele Migrantenklubs wollten oder konnten sich nicht so öffnen wie die AC Rossoneri – und starben aus. «Die Vereine leiden an Mitgliederschwund, weil das Interesse der jungen Generation nicht vorhanden ist», sagte Rolando Ferrarese, Direktor des italienischen Kulturzentrums in St. Gallen, kürzlich dem «Tagblatt». Nach der grossen Immigrationswelle der 60er-Jahre habe es in der Ostschweiz 300 italienische Vereine gegeben – viele Fussballklubs, aber auch Boccia-, Kultur- oder Gesangsvereine. Heute sind es noch deren 40. Mit fortschreitender Integration verschwindet das Bedürfnis nach einem Umfeld, das die gleiche Sprache spricht und dieselben Werte teilt, immer mehr.
Hinzu kommt: Wer sportliche Ambitionen hegt, macht es sich mit der Beschränkung auf Spieler aus einem Kulturkreis noch schwerer; mit einer Öffnung opfert man wiederum die Italianità. Das zeigt sich bei den erfolgreichsten Italo-Vereinen des Landes: Nach der Fusion zwischen dem SC Juventus und den Young Fellows 1992 deutet nur noch der Name SC YF Juventus auf die Wurzeln hin, bei der CS Italien aus Genf ist der Präsident Italiener, Italienisch versteht aber kaum einer der Spieler. Etwas anders entwickelt hat sich der FC Bühler aus dem Appenzellerland. Die ersten Statuten waren noch in Italienisch verfasst und hielten fest, dass Frauen nicht zugelassen sind. Heute hat der Verein eine der grössten Frauenabteilungen des Landes, der südliche Einschlag ist immer noch zu spüren.
Auch die AC Virtus aus Liestal, der fast gleichzeitig entstandene Nachbar der Rossoneri, hat sich über die Jahre stark verändert. «Der Begriff ‹Italienischer Migrantenverein› ist nicht mehr zeitgemäss», sagt Präsident Nicola Maiorano. Sein Klub habe einen Übergang zum Integrationsverein durchlebt. Heute sei eine der Aufgaben das Integrieren der heutigen Zuwanderer und Geflüchteten. So würden auch einmal Migranten, die beim Training zuschauten, zum Mitmachen eingeladen.
Tomaten und Basilikum
Die italienischen Züge zu erhalten, sei dem 4.-Ligisten immer noch sehr wichtig. «An Sitzungen oder Treffen in kleinerem Rahmen sprechen wir italienisch», sagt Maiorano. Und fügt an: «Sofern alle die Sprache verstehen, natürlich.» Er merke, dass bei der dritten Generation der Bezug zu Italien nicht mehr sonderlich stark sei. Im Jubiläumsheft von 2011 schrieb ein Gründungsmitglied: «In Bezug auf die Jugendlichen von heute muss ich erwähnen, dass sich die Welt nach 50 Jahren sehr entwickelt hat – somit auch die Motivation. Sie haben die Familie, die sie unterstützt (die wir vor 50 Jahren nicht hatten), sind bereits integriert und haben mehr Möglichkeiten, Spass zu haben.» Um das langfristige Überleben zu sichern, hat sich der Verein vor sechs Jahren dafür entschieden, Junioren auszubilden. 110 sind es mittlerweile, sie heissen Joris, Dominik, Alec oder Baran.
Italianità will die AC Virtus zumindest in der Vereinsführung erhalten. «Wenn wir zwei gleich kompetente Kandidaten hätten, würde die Wahl wohl auf den mit italienischen Wurzeln fallen», sagt Vizepräsident Antonio Nocera. Mögliche Nachfolger mit Bezug zur zweiten Heimat seien allerdings kaum in Sicht, was ihm gewisse Sorgen bereite. Schliesslich dürfe der Verein seine DNA keinesfalls verlieren, damit das Vermächtnis bewahrt werde. Während Maiorano und Nocera über das Thema Stolz im Zusammenhang mit ihrer Herkunft reden, wird in der Küche geschnippelt, geraffelt und gemixt. Der Duft von Tomaten und Basilikum erfüllt den Raum.
Zusammenkommen als Initialzündung
Als in den 80er- und 90er-Jahren vermehrt Personen aus dem Balkan in der Schweiz Arbeit oder Zuflucht suchten, kämpften viele der italienischen Vereine bereits mit akutem Mitgliedermangel. Mancherorts kam es zu Ablösungen, Klubs wurden etwa von Azzurri in Srbija umgetauft. Auch viele neue Vereine entstanden, von denen mittlerweile einige mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wie die Italiener damals oder die gar bereits wieder Geschichte sind.
Die Herausforderungen der noch immer existierenden Italo-Vereine unterscheiden sich heute kaum noch von denjenigen übriger Amateurklubs. Das gilt auch für den FC Juventina Wettingen, den letzten überlebenden italienischen Migrantenverein im Kanton Aargau. Er hat sich längst geöffnet – mit nur 3000 italienischstämmigen Personen in der Region liessen sich die 15 Teams nicht betreiben. Sie seien «eine bunt zusammengewürfelte Truppe», sagt Präsident Flavio Girolimetto. Das Italienische an seinem Verein sei, dass er «wie eine Familie» sei. Wenn etwa jemand den Mitgliederbeitrag nicht bezahlen könne, werde man nicht gleich ausgeschlossen. Seine grösste Sorge gilt nicht der Erhaltung der Italianità, sondern – wie bei so vielen im Kanton – den fehlenden Fussballplätzen. Stolz ist er hingegen auf seine qualifizierten Nachwuchstrainer, dank denen kürzlich sogar zwei Junioren zum FC Aarau wechseln konnten.
An die Anfangszeit erinnern sich nur noch die ältesten Mitglieder. 1971 wurde Juventina – eine Verschmelzung von Juventus und Fiorentina – von Einwanderern gegründet, von denen viele beim Elektronikriesen BBC in Baden arbeiteten und im dortigen Arbeiterquartier wohnten. Sprachbarrieren und kulturelle Differenzen sorgten für eine Zweiteilung der Gesellschaft. Wilde Geschichten von emotionsgeladenen «Ausländerderbys» gegen Mannschaften wie Brisgi Baden oder Ausonia Lupfig, bei denen die Schiedsrichter nicht zu beneiden gewesen seien, werden noch heute im Vereinshäuschen erzählt.
Das Zusammenkommen war für viele italienische Vereine der wichtigste Grund für ihre Gründung. Bei den einen war es das Zusammenkommen mit anderen Italienern, für andere ging es um das Schlagen von Brücken zu den Einheimischen. Aus solchen Initiativen sind unzählige Feste entstanden, die heute noch stattfinden und bei denen die im Vereinsalltag verloren gegangene Italianità wieder aufleben soll.
Gerade die alte Garde kämpft weiterhin mit Händen und Füssen dafür, dass diese nicht ganz verschwindet. Der Gedanke einer Fusion mit anderen Vereinen, der in schwierigen Zeiten immer wieder aufkommt, löst unangenehme Emotionen aus. Wenn auch noch der Klubname wegfällt, was wäre dann überhaupt noch italienisch am Verein? Als die Stadt Grenchen 2015 mehreren Klubs empfahl, sich zusammenzuschliessen, und Verweigerern damit drohte, ihnen ihre Privilegien zu entziehen, stellte sich die GS Italgrenchen dennoch quer – mit Verweis auf ihre kulturelle Identität. Auch bei Juventina stand eine Fusion zur Debatte, nachdem der einstige NLA-Klub FC Wettingen in Konkurs gegangen war. Man entschied sich dagegen, aus Furcht, im neuen Konstrukt keine Rolle mehr zu spielen.
Geschichten aus einer anderen Zeit
Bei der AC Virtus in Liestal sind solche Horrorszenarien kein Thema mehr. Im Klublokal sitzen nun plötzlich acht Personen um einen langen Tisch, trinken Vino rosso und essen Pasta mit hausgemachtem Sugo. Auch Salamischeiben und Käsebrocken werden aufgetischt. In kleinen Körbchen wird Brot gereicht, um damit die Sauce aus dem Teller zu putzen. «Sehr italienisch», betont Präsident Maiorano und lacht. Die Vereinsmitglieder der ersten und der zweiten Generation werden den Abend mit alten Geschichten über gemeinsame Reisen ausklingen lassen. Reisen, welche die Jungen heute so grösstenteils nicht mehr erleben, da sie für wenig Geld fast jeden Ort der Welt besuchen können und das Bedürfnis nach einer Gemeinschaft nicht mehr so vorhanden ist. «Peccato», sagt eines der beiden Gründungsmitglieder, die dem Verein erhalten geblieben sind. Schade.