Solo in Challenge League - der ewige Silvio
Beitrag aus dem Zwölf-Magazin: Heft 90
Vor 16 Jahren kam ein junger Brasilianer zum ersten Mal nach Wil. Jetzt, mit 37, ist er immer noch da und trotzt in der dieci Challenge League jeglichem Jugendwahn.
Die Endgültigkeit dauert manchmal bloss drei Monate. Als Carlos Silvio im September 2020 mit 35 seinen Vertrag beim FC Wil auflöste und in die Promotion League nach Rapperswil wechselte, schien seine Zeit im Schweizer Spitzenfussball endgültig vorbei. Doch im Januar darauf stand der breitschultrige Stürmer doch wieder vor den Toren des Bergholz – zum dritten Mal.
«Als es dem FC Wil nicht lief, witzelte ich schon mit meiner Frau: Jetzt rufen sie dann wieder an. Und ein paar Tage später hatte ich tatsächlich den Sportchef am Telefon», erzählt Silvio. Und so bildet er abermals die Sturmspitze, er rackert, er schirmt Bälle ab, und manchmal skort er auch noch. Seit Kurzem ist er Rekordtorschütze der Wiler. Ausgerechnet ein einstiges Talent aus Brasilien, wie sie Jahr für Jahr zu Hunderten nach Europa schwärmen, ist Publikumsliebling und grösste Konstante in diesem farblosen Klub geworden. Als Silvio 2006 erstmals nach Wil kam, gab es noch kein iPhone und die Challenge League war erst drei Jahre alt.
Aufgewachsen ist Silvio Carlos de Oliveira in einer bäuerlichen Gegend im Bundesstaat Paraná im Süden Brasiliens. Mit 7 beginnt er Fussball zu spielen, mit 15 werden Scouts des FC Santos auf ihn aufmerksam, wo Pelé und Neymar gross wurden. Als ihm dort später bei der U20 nach einer Verletzung das Aufgebot für ein wichtiges nationales Nachwuchsturnier verwehrt bleibt, will er den Klub verlassen. Doch dann kommt der Anruf aus der Schweiz. Berater Dino Lamberti, der zuvor bereits Brasilianer in die Schweiz transferiert hat (etwa die späteren FCZ-Stars Raffael oder César) und einst selber bei Wil spielte, erkundigt sich bei Santos’ Trainer, ob ein Stürmer verfügbar sei. Dann geht es schnell. Von der Schweiz habe er damals schon gehört, sagt Silvio heute lachend, «auf einer Weltkarte hätte ich das Land aber nicht gefunden». Das erklärt dann wohl auch die «Cool Runnings»Bilder, die seine Erzählung transportiert. «Ich habe doch nicht daran gedacht, den Koffer umzupacken! Erst als ich über Zürich anflog, dämmerte es mir: Da war alles weiss!» Es ist Februar 2006. In der Ankunftshalle wartet Berater Lamberti mit einer Jacke für ihn.
Fluchen für die Integration
Es tönt klischeehaft, aber mit dem Klima hadern brasilianische Fussballer am meisten, wenn sie nach Europa kommen – wobei der Klimabegriff ja weit mehr umfasst als die Anzeige auf dem Thermometer. Auch die Einsamkeit in fremden Gefilden tut nicht jedem gut. Silvio lebt nach seiner Ankunft wochenlang allein im Hotel, spricht kein Deutsch, im Team versteht niemand Portugiesisch. Doch zum Glück sind da MTV und Xavier Naidoo. «Ständig lief im Fernsehen sein Lied ‹Dieser Weg›. Ich kann es noch immer auswendig. So habe ich Deutsch gelernt», erinnert sich Silvio. Die Teamkollegen versuchen sich derweil in portugiesischen Fluchwörtern oder imitieren die brasilianische Aussprache, wie sein damaliger Mitspieler Stipe Matic erzählt, der ihm bis heute freundschaftlich verbunden ist. Bald lernt Silvio auch seine heutige Schweizer Frau kennen und wird Vater.
Auf dem Platz hingegen löst sich der Knopf erst spät. Gerade mal 5 Tore gelingen ihm in den ersten eineinhalb Jahren, dann sind es in der Hinrunde 2008/09 unter Uli Forte gleich deren 11. Forte, der heute Ligakonkurrent Yverdon trainiert, erinnert sich an Silvio als frohes Gemüt gepaart mit einer beeindruckenden Robustheit. «Dieser Mann ist aus Holz! Alle versuchten ihn kaputtzutreten, aber das ist unmöglich», sagt er. Der Körper ist heute Silvios Kapital für sein ewiges Profileben, was sein T-Shirt-Trucker-Cap-Look gut unterstreicht.
Silvios Karriere verlief respektabel, aber eben doch zum grössten Teil in der zweiten Schweizer Liga. Zwangsläufig zieht man Vergleiche, war doch insbesondere die zweite Hälfte der Nullerjahre geprägt von der Entdeckung von Challenge-League-Perlen. Die Stürmer Raúl Bobadilla und Raffael etwa, die für nahezu kein Geld ins Oberhaus wechselten, dort sofort einschlugen und international grosse Karriere starteten. Der FC Zürich versuchte den Raffael-Glücksgriff zu wiederholen, es gelang nicht, auch bei Silvio nicht. Anfang 2009 erhält er beim Klub von Ancillo Canepa einen Vierjahresvertrag. «Es war wohl nicht der ideale Zeitpunkt», sagt Silvio rückblickend. «Im Klub war ein Umbruch im Gang. Ich spielte zwar gut, machte aber keine Tore. Das passierte mir sonst nirgends und nagt immer noch an mir.»
Nach Leihen in die Challenge League scheint Silvio 2010 endlich bereit für die erste Liga. Lausanne, mit dem er aufgestiegen ist und im Europacup brilliert hat, will ihn definitiv verpflichten. Doch der Stürmer gibt erneut der zweiten Liga den Vorzug – der deutschen, weil er sich von der dortigen Begeisterung anstecken lässt. Erst bei Union Berlin sei ihm wirklich bewusst geworden, wie stark Fussball auch neben dem Platz gelebt werden könne. «Bei jedem Training war ein halbes Dutzend Journalisten vor Ort und schaute einfach zu, für mich völlig neu. Die warteten und hofften, dass etwas Aussergewöhnliches passieren würde», sagt Silvio und lacht dabei so sehr, weil er es noch immer für eine völlig absurde Idee hält.
Singen mit Union Berlin
Besser hätte der Start in Berlin nicht verlaufen können. Schon im September schiesst er mit einem herrlichen Seitfallzieher gegen Ingolstadt das «Tor des Monats», gewählt von den Zuschauern der ARD. An der dafür zugeschickten Medaille will er, ganz Teamplayer, aber auch die Vorbereiter des Treffers teilhaben lassen – und zersägt das Edelmetall mit viel Krampf in drei Stücke. Wo die Einzelteile inzwischen sind, weiss niemand mehr. Für die Wahl zum «Tor des Jahres» mobilisiert Union dann alles und jeden. Im Trainingslager bittet der Medienchef den musikalisch beschlagenen Silvio, er solle doch mal eben auf der Gitarre die Akkorde des 60er-Schlagers «Mendocino» anschlagen. Nichts ahnend leistet dieser Folge, worauf die ganze Mannschaft vor laufender Kamera zu singen beginnt:
Gewählt wird letztlich aber – um noch einmal zu verdeutlichen, auf welch lange Karriere wir hier zurückblicken – Raúl von Schalke 04.
Nach einer leichten Verletzung ist Silvio aber nicht mehr derselbe. «Das Umfeld bei Union ist sehr positiv. Die Fans haben uns immer unterstützt, auch bei Niederlagen stets geklatscht. Aber ich habe mich selbst zu sehr unter Druck gesetzt. Ich wollte zu viel erzwingen.» Dennoch möchte er die Zeit in Deutschland nicht missen, auch wegen der grossen Affichen gegen Hertha, Dresden oder Frankfurt. Schlechte Erinnerungen hat er an Cottbus, wo Zuschauer rassistisch ausfällig wurden.
Nach zwei Saisons in Österreich – für Wolfsberg schoss er seine einzigen Tore in einer obersten Liga und spielte in der Europa League gegen Dortmund – kehrt Silvio 2016 in die Schweiz zurück, wo er seine Karriere aber nicht ausklingen lässt, sondern einfach immer weitermacht. Hier ist nun seine Heimat, er hat den roten Pass. Seine Töchter, 12- und 15-jährig, spielen leidenschaftlich Volleyball.
Mitspieler sind halb so alt
Trainer zu werden will Silvio dereinst. In Rapperswil hätte er zunächst spielen und anschliessend eine Nachwuchsmannschaft übernehmen sollen. Das muss noch warten. Denn dann kam der Anruf aus Wil. «Der damalige Trainer Alex Frei wollte jemanden, der zusammen mit Philipp Muntwiler die Jungen mitziehen kann.» Viele Spieler im Wiler Kader sind halb so alt wie Silvio, nur fünf sind älter als 23. Das sei der grösste Unterschied zu früher, wo in der Challenge League noch viel mehr «Männer» gespielt hätten. Viele Junge müssten noch lernen, Profi zu sein. Es brauche Leute auf dem Platz, die ihnen das klarmachten, sonst habe man keine Chance.
Der heutige Wil-Trainer Brunello Iacopetta, bereits in Rapperswil Silvios Coach, setzt auf ein aggressives Pressing. Wie steht er das bloss noch durch mit 37, während andere schon mit 28 als zu alt für diese Liga gelten? «Den Ball zu erobern, dauert ja bloss ein paar Sekunden, die Verteidiger in dieser Liga sind nicht von Barcelona», sagt Silvio lachend. «Ausserdem habe ich gute Gene und mache jedes Jahr mehr für meine Fitness.» Richtig verletzt war Silvio noch überhaupt nie. Er ist eben aus Holz.
Alles deutet darauf hin, dass Silvio in Wil noch ein weiteres Jahr anhängt und auf den Plätzen für gute Laune sorgt. «Als ich kürzlich auf Xamax mit Raphael Nuzzolo traf, sagten wir zueinander: ‹Wie lange spielst du noch?› Mal schauen, wers länger schafft.» An Motivation dürfte es dem Stürmer nicht fehlen. In der ewigen Torschützenliste der Challenge League liegt er auf Platz 2, noch sieben Tore hinter Igor Tadic, der zwar jünger ist, aber inzwischen aufgehört hat. Nächste Saison könnte sich der ewige Silvio also endgültig verewigen.